Dienstag, 21. September 2010

Clarice Lispector: "Liebe" Teil III

Die Straßenbahn schwankte in den Gleisen, befuhr breite Straßen. Schon blies ein feuchter Wind, kündigte, mehr als das Ende des Nachmittags, das Ende der unsicheren Tageszeit an. Ana atmete tief ein und eine große Akzeptanz gab ihrem Gesicht einen weiblichen Ausdruck. Die Straßenbahn quietschte und schlingerte abwechselnd. Bis Humaitá hatte sie Zeit, sich auszuruhen. In diesem Moment erblickte sie den Mann, der an der Haltestelle stand.


Der Unterschied zwischen ihm und den Anderen war, dass er wirklich stand. Aufrecht, seine Hände nach vorne. Es war ein Blinder.

Was noch ließ Ana sich misstrauisch aufrichten? Etwas Beunruhigendes war in Gange. Dann sah sie es: der Blinde kaute Kaugummi…

Ein blinder Mann kaute Kaugummi.

Ana hatte gerade noch Zeit, für eine Sekunde daran zu denken, dass ihre Geschwister zum Abendessen kommen sollten – ihr Herz schlug gewaltig, gemächlich. Vornüber gebeugt, sah sie den Blinden tief an, wie man etwas ansieht, das einen nicht sieht. Er kaute im Dunkeln Kaugummi. Ohne Leid, mit offenen Augen. Die Kaubewegungen ließen ihn so aussehen als lächle er und höre plötzlich wieder auf, lächle und höre wieder auf – so, als hätte er sie beleidigt, betrachtete Ana ihn – und wer sie sah hätte den Eindruck, eine hasserfüllte Frau vor sich zu haben. Aber sie betrachtete ihn weiter, immer mehr vornüber gebeugt – die Straßenbahn machte einen plötzlichen Ruck, der sie unerwartet nach hinten schleuderte, die schwere Stricktasche löse sich von ihrem Schoß, krachte auf den Boden. Ana schrie, der Fahrer gab das Haktesignal bevor er wusste, worum es ging – die Straßenbahn ruckte, die Passagiere schauten erschrocken.

Unfähig, sich zu bewegen um die Einkäufe aufzuheben, erstarrte Ana erbleicht. Ein seit langem nicht mehr aufgesetzter Gesichtsausdruck kam mühsam wieder hervor, immer noch unsicher, unverständlich. Der Zeitungsjunge lachte, als er ihr die Tasche reichte. Aber die Eiere waren in ihrer Verpackung aus Zeitungspapier zerbrochen. Eigelb und –dotter tropfte zwischen den Fäden des Netzes. Der Blinde hatte das Kauen unterbrochen und streckte die unsicheren Hände nach vorne, versuchte vergebens zu erfassen, was passierte. Die Eierverpackung wurde aus dem Einkaufsnetz geworfen und zwischen dem Grinsen der Passagiere und dem Signal des Fahrers, ruckte die Straßenbahn zum neuen Start.

Wenige Momente danach, sahen sie sie schon nicht mehr an. Die Straßenbahn schüttelte sich in den Gleisen und der Kaugummi kauende Blinde blieb für immer zurück. Aber das Unheil war geschehen.

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