Sonntag, 24. Oktober 2010

Clarice Lispector: "Liebe" Teil V

Neben ihr war eine Dame in Blau, mit einem Gesicht. Schnell wandte sie den Blick ab. Auf dem Bürgersteig stieß eine Frau ihren Sohn an! Zwei Verliebte schlangen lächelnd die Finger ineinander… Und der Blinde? Ana war in eine extrem schmerzhafte Güte verfallen.
Sie hatte das Leben so gut beschwichtigt, so gut dafür gesorgt, dass es nicht explodierte. Sie hielt Alles in feierlichem Verständnis, trennte eine Person von der anderen; die Kleider waren eindeutig dazu da, angezogen zu werden und man konnte sich in der Zeitung den Abendfilm aussuchen – Alles war so gemacht, dass ein Tag auf den anderen folgte. Und ein Kaugummi kauender Blinder zerstückelte all das. Und durch die Barmherzigkeit erschien Ana ein Leben voll süßem Brechreiz, bis in den Mund.
Erst jetzt merkte sie, dass sie schon lange an ihrer Haltestelle vorbei war. Schwach wie sie war, traf sie Alles wie ein Schreck; sie stieg mit debilen Beinen aus der Straßenbahn; sah um sich, das von den Eiern schmutzige Netz haltend. Einen Moment lang konnte sie sich nicht orientieren. Als sei sie mitten in die Nacht gesprungen.
Es war eine lange Straße mit hohen, gelben Mauer. Ihr Herz schlug vor Angst. Sie versuchte vergebens, die Umgebung wieder zu erkennen, während das Leben, welches sie entdeckt hatte, weiter pulsierte und ein wärmerer, geheimnisvollerer Wind ihr Gesicht umspielte. Sie blieb stehen und sah die Mauer an. Endlich wusste sie, wo sie war.

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